From Feature-User to Data Engine: Steuerberatung zwischen Plattformabhängigkeit, Vendor Lock-In und Datensouveränität

Aktualisiert am
From Feature-User to Data Engine: Steuerberatung zwischen Plattformabhängigkeit, Vendor Lock-In und Datensouveränität

Die Steuerberatung in Deutschland befindet sich in einer fundamentalen Umbruchphase. Kanzleien erbringen traditionell Primärleistungen wie Buchführung, Lohnabrechnungen, Jahresabschlüsse und Steuererklärungen. Diese Prozesse erzeugen große Mengen strukturierter Daten, die bislang kaum als eigenständiger Wert verstanden wurden. Im digitalen Kontext jedoch entwickeln sie sich zu einem strategischen Rohstoff.

DATEV als zentrale Plattform speichert bereits heute nahezu alle geschäftsrelevanten Daten von Mandanten. Im Rechenzentrum in Nürnberg lagern Buchungssätze, Löhne, Belege, Steuererklärungen und Kommunikationsprozesse. Formal gehören diese Daten weiterhin den Mandanten, während die Kanzlei als Verantwortliche agiert und DATEV als Auftragsverarbeiter tätig ist. Doch diese juristische Konstruktion blendet eine entscheidende Dimension aus: Die tatsächliche Macht über Daten ist nicht rechtliches Eigentum, sondern „Besitz“ – der Möglichkeit des Zugriffs, der Kontrolle über Formate und in der Macht, Daten zu verwerten.

„Eigentum“ vs. „Besitz“: Das unterschätzte Spannungsfeld

Die Unterscheidung zwischen „Eigentum“ und „Besitz“ von Daten ist für die strategische Positionierung von Steuerkanzleien entscheidend. Eigentum beschreibt die rechtliche Herrschaft, die unzweifelhaft bei den Mandanten liegt. Besitz beschreibt hingegen, wer faktisch Zugriff hat, wer über Schnittstellen bestimmt und wer definiert, wie Daten genutzt werden.

In der Praxis kontrollieren viele Kanzleien die Daten nicht vollständig. Sie erhalten nur die Zugänge, die DATEV oder andere Plattformen bereitstellen. Damit liegt der Besitz – und damit die faktische Macht – nicht bei den Mandanten oder den Steuerberatern, sondern bei den Plattformen.

Das Risiko ist klar: Kanzleien werden zu Feature-Usern, deren Leistungen in die Funktionsbibliothek anderer integriert werden. Man könnte auch sagen

“ Unless you have a clear path to proprietary data or workflow ownership, you’re building a feature that platforms will absorb.“

Vendor Lock-In als strukturelles Risiko

Diese Abhängigkeit ist ein klassischer Fall von Vendor Lock-In. Daten und Workflows werden so stark in proprietäre Systeme eingebunden, dass ein Wechsel kaum möglich ist. Bei DATEV zeigt sich das besonders deutlich: Daten liegen in proprietären Strukturen, Exporte sind begrenzt und aufwendig, die Wertschöpfung durch neue Funktionen verschiebt sich zunehmend zur Plattform.

Langfristig bedeutet das: KI-gestützte Buchungsvorschläge, Branchen-Benchmarks und Reports entstehen zentral bei DATEV oder anderen Plattformen, während Kanzleien nur noch als Nutzer fungieren. Man könnte auch sagen:

“These aren’t tax firms with a database. They’re service engines designed to collect proprietary, high-value datasets as a byproduct of client work, then monetize that data in adjacent markets.”

Die Kanzlei läuft Gefahr, Daten zu liefern, aber die daraus entstehende Wertschöpfung aus der Hand zu geben.

Drei Säulen der Souveränität: Portabilität, Semantik, KI

Der Ausweg liegt nicht darin, Plattformen zu meiden, sondern sie bewusst als Infrastruktur zu nutzen und Abhängigkeiten systematisch zu reduzieren. Die strategische Antwort lässt sich auf drei Säulen verdichten:

1. Portabilität schaffen

Datenportabilität bedeutet, dass Kanzleien jederzeit über einen vollständigen, strukturierten Export ihrer Daten verfügen müssen – unabhängig von der Plattform. Das erfordert automatisierte ETL/ELT-Prozesse, die Daten aus DATEV (oder anderen Plattformen), Banking, E-Commerce, Lohn und weiteren Quellen regelmäßig extrahieren und in einen kanzleieigenen Datenraum laden.

Technologien wie Microsoft Fabric mit dem Speicher OneLake bieten hier eine geeignete Infrastruktur. Der entscheidende Unterschied zu DATEV liegt im Format: OneLake speichert Daten standardmäßig in Parquet/Delta. Dieses offene, spaltenorientierte Format ist hochkomprimiert, effizient und von nahezu allen modernen Daten- und KI-Systemen lesbar – von Spark über Databricks und Snowflake bis hin zu Open-Source-Frameworks wie Pandas oder DuckDB. Damit ist sichergestellt, dass die Daten nicht in einem proprietären Format „eingesperrt“ bleiben, sondern jederzeit exportierbar und portabel sind.

So entsteht ein fundamentaler Unterschied zu DATEV: Während DATEV-Daten ohne Exporte in proprietären Silos verharren, können Kanzleien in Fabric einen portablen Datenbestand aufbauen, der unabhängig von der Plattform langfristig nutzbar bleibt.

Zur Absicherung gehört zudem eine Exit-Strategie: Regelmäßige Backups im Parquet-Format sollten außerhalb von Microsoft gespeichert werden, etwa in AWS S3 oder on-premises. So bleibt die Kanzlei auch bei Änderungen von Microsofts Preismodell oder Technologiepolitik souverän.

2. Semantik kontrollieren

Daten allein haben keinen Wert, wenn die Bedeutung von anderen definiert wird. Deshalb müssen Kanzleien eine eigene semantische Schicht etablieren.

Das bedeutet, dass nicht DATEV oder Microsoft bestimmen, was eine „Liquidität“, ein „Risikoprofil“ oder ein „Branchenvergleich“ ist, sondern die Kanzlei selbst. Eigene KPIs, Taxonomien und Benchmarks verwandeln Rohdaten in proprietäre Wissensmodelle.

Wenn eine Kanzlei beispielsweise branchenspezifische Kennzahlen für Physiotherapie-Praxen, Bauunternehmen oder E-Commerce-Shops definiert und systematisch pflegt, entsteht ein eigenes semantisches Kapital, das nicht austauschbar ist. DATEV wird so zur Datenquelle, aber die eigentliche Intelligenz liegt in der Kanzlei.

3. Weg zur eigenen KI-Lösung

Die dritte und wichtigste Säule ist die Entwicklung eigener KI-Lösungen. Sobald Daten in Parquet/Delta im eigenen Datenraum vorliegen und durch eine semantische Schicht angereichert wurden, können sie für Custom AI Models genutzt werden.

Das eröffnet drei zentrale Anwendungen:

  • Anomalieerkennung: KI-Modelle erkennen Auffälligkeiten in Buchungen oder Zahlungsströmen, bevor sie zum Problem werden.
  • Prognosen: Cashflow- und Liquiditätsprognosen, Szenarioanalysen oder Steuerbelastungsprognosen, die auf mandantenübergreifenden Daten trainiert sind.
  • Benchmarks: Anonymisierte, aggregierte Datenpools ermöglichen Vergleiche zwischen Mandanten derselben Branche und liefern individuelle Handlungsempfehlungen.

Der entscheidende Punkt: Diese KI-Lösungen entstehen innerhalb der Kanzlei. Sie sind kein Standard-Feature von DATEV oder Microsoft, sondern proprietäre Produkte, die Mandanten nur in dieser Kanzlei erhalten. Damit schaffen Steuerberater ein neues Geschäftsmodell und eine Differenzierung, die sie aus der Austauschbarkeit befreit. Ja, sicherlich werden auch Plattformen – soweit rechtlich zulässig – derartige KI – Lösungen anbieten. Aber zu deren Konditionen und Regeln.

Compliance als strategischer Vorteil

Eine häufig geäußerte Sorge lautet: Dürfen Steuerberater solche Daten überhaupt in dieser Weise nutzen? Hier zeigt sich ein vermeintliches Hindernis als strategischer Vorteil.

Steuerberater sind durch die DSGVO, § 203 StGB und ihre Berufsordnung besonders streng an Datenschutz und Verschwiegenheit gebunden. Das schafft Vertrauen. Wenn eine Kanzlei Datenräume so organisiert, dass Pseudonymisierung, Aggregation und Zweckbindung konsequent umgesetzt werden, entsteht ein konformer und vertrauenswürdiger Rahmen. Die Vertragsbeziehung besteht zwischen Mandant und Kanzlei – und nicht zwischen Mandant und Plattform, auch wenn der ein oder andere Plattformbetreiber das gerne so hätte.

Während (internationale) Plattformen oft mit Skepsis betrachtet werden, können Kanzleien genau hier punkten: Sie werden in Zukunft zu natürlichen Beratern - nicht nur in steuerlichen, sondern auch in datengetriebenen Fragen.

Der Weg zum Service Engine Betreiber

Die Zukunft der Steuerberatung entscheidet sich nicht an der Frage des Eigentums, sondern am Besitz und an der Verwertbarkeit der Daten. Eigentum liegt formal bei den Mandanten. Aber wer Portabilität, Semantik und KI kontrolliert, bestimmt die Wertschöpfung.

Kanzleien, die diese drei Säulen aufbauen, nutzen Plattformen als Infrastruktur, ohne sich in deren Lock-In zu verstricken. Sie sichern den Zugriff durch offene Formate, schaffen eigene semantische Modelle und entwickeln proprietäre KI-Lösungen. Damit werden sie vom austauschbaren Feature-User zum Service Engine Betreiber, der Daten nicht nur verwaltet, sondern aktiv in neue Wertschöpfung übersetzt.

Oder anders formuliert: Steuerberater, die ihre Datenräume gestalten, werden Plattformen auf Augenhöhe begegnen. Steuerberater, die dies versäumen, werden Teil eines Features, das andere definieren.

Aktualisiert am

Hinterlasse einen Kommentar

Bitte beachte, dass Kommentare vor der Veröffentlichung freigegeben werden müssen.

Mehr interessante Angebote

... gibt es in unserem online Shop