In vielen Steuerkanzleien beginnt Digitalisierung immer noch auf der Oberfläche: mit Tools. Ein neues Formularsystem für Mandantenanfragen, ein smarter Buchhaltungsassistent, eine PDF-Lösung für Unterschriften oder eine Automatisierung via Zapier – all das verspricht Effizienz, Entlastung und Modernisierung. Und tatsächlich kann jedes dieser Werkzeuge in einem konkreten Anwendungsfall auch kurzfristig helfen.
Doch was auf den ersten Blick wie ein sinnvoller Schritt nach vorn aussieht, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen oft als Symptom einer tiefer liegenden Unklarheit: Es fehlt an einer durchdachten, tragfähigen Architektur. An einer Plattformstrategie.
Tools allein lösen keine strukturellen Probleme. Sie kaschieren sie.
Viele Kanzleien erleben genau das. Sie führen Softwarelösungen ein, die nebeneinander existieren, aber nicht miteinander sprechen. Sie automatisieren einzelne Schritte, doch bleiben auf das händische Zusammenspiel zwischen den Tools angewiesen. Daten fließen nicht sauber zwischen Systemen, Prozesse sind inkonsistent, Verantwortlichkeiten unklar. Das Ergebnis ist nicht weniger Aufwand, sondern mehr Koordination, mehr Fehlerquellen, mehr Frustration. Digital – ja. Aber keineswegs besser.
Toolnutzung ist keine Digitalisierung
Die Ursache liegt in einem grundlegenden Missverständnis. Digitalisierung wird mit Toolnutzung verwechselt. Dabei geht es in Wirklichkeit um etwas ganz anderes: um den Aufbau einer skalierbaren, integrationsfähigen und mitwachsenden digitalen Plattform.
Eine Plattformstrategie beginnt nicht bei der Frage „Welches Tool ist besser?“, sondern bei der Überlegung, wie ein Gesamtprozess abgebildet werden kann – von der Erfassung über die Verarbeitung bis zur Auswertung und Weiterverwendung von Informationen. Sie betrachtet nicht nur Software, sondern auch Datenmodelle, Schnittstellen, Rechtekonzepte, Mandanteninteraktion, Automatisierungspotenziale und Skalierbarkeit.
Eine solche Strategie erlaubt es, einzelne Lösungen jederzeit auszutauschen, ohne dass die Gesamtstruktur kollabiert. Sie schafft eine belastbare digitale Infrastruktur – kein Puzzle.
Die nächste Welle: KI-Agenten
Diese Denkweise wird nicht nur in der Gegenwart gebraucht, sondern ist die Voraussetzung für das, was jetzt kommt: die Integration von KI-Systemen, insbesondere sogenannter Agenten.
Während klassische Automatisierungstools einzelne Aufgaben über Regeln abbilden, versprechen KI-Agenten deutlich mehr. Sie kombinieren Sprachverarbeitung, Kontextverständnis und prozessorientiertes Handeln. In der Steuerberatung bedeutet das: ein System, das nicht nur Texte analysieren, sondern Buchungsvorschläge erstellen, Mandantenfragen beantworten oder strukturierte Daten aus E-Mails extrahieren kann. Intelligente Assistenten, die – richtig eingebettet – echte Entlastung schaffen.
Doch diese Systeme funktionieren nur, wenn sie auf eine stabile Grundlage treffen. Ein KI-Agent ist keine App, die man installiert und sofort produktiv nutzt. Er ist ein komplexes System, das auf eine Vielzahl technischer Komponenten angewiesen ist: Benutzeroberfläche, Zugriffskontrolle, Datenbanken, Monitoring, Integration externer Dienste, Modellverteilung, Datenaufbereitung, Infrastruktursteuerung – all das sind Bausteine, die unter der Oberfläche zusammenwirken müssen, damit der Agent überhaupt sinnvoll operieren kann.
Was unter der Oberfläche passiert
In der Praxis heißt das: Wer seine digitale Infrastruktur bisher auf Toolkombinationen gebaut hat, ohne ein übergreifendes Modell zu verfolgen, wird einen KI-Agenten nicht erfolgreich integrieren können. Es fehlt die Klarheit über Datenflüsse, Prozesslogik und Berechtigungsstrukturen. Es fehlt ein einheitliches Systemverständnis, das die Basis bildet für eine wirkungsvolle Automatisierung.
Gerade in der Steuerberatung ist dieser Punkt kritisch. Hier geht es nicht nur um Komfortfunktionen, sondern um rechtlich relevante Prozesse. Eine KI, die automatisch bucht oder Entscheidungen vorbereitet, muss auf nachvollziehbare Daten zugreifen können, Eingaben korrekt interpretieren, Protokolle führen und sich in eine kontrollierbare Infrastruktur einfügen. Das setzt voraus, dass diese Infrastruktur überhaupt existiert – und nicht aus einem Sammelsurium einzelner Tools besteht.
Eine Frage der Architektur, nicht des Mutes
Deshalb markiert der Übergang zur KI nicht einfach den nächsten Schritt in der Toolentwicklung, sondern eine Zäsur. Er zwingt dazu, die eigene digitale Grundlage ehrlich zu bewerten. Wer nicht nur experimentieren, sondern wirklich transformieren will, muss seine Kanzlei wie ein digitales Unternehmen führen – mit Plattformarchitektur, Systemdesign und einer klaren Roadmap.
Genau hier entsteht der Unterschied zwischen kurzfristigem Aktionismus und echter strategischer Führung. Und genau hier entscheidet sich, wer in der kommenden Phase Orientierung geben kann – den Mandanten ebenso wie dem eigenen Team.
Trusted Advisor in der KI-Ära
Nicht der, der das beste Tool empfiehlt, wird gebraucht. Sondern der, der den Prozess versteht. Der weiß, wie Daten fließen müssen, wo Automatisierung sinnvoll ist, und wann eine KI einen echten Mehrwert bietet. Der nicht nur Funktionen einführt, sondern digitale Strukturen baut, die belastbar, integrierbar und zukunftsfähig sind.
Das ist die Rolle des Trusted Advisor in der KI-Ära: nicht Tool-Tippgeber, sondern Architekt der nächsten Generation von Steuerkanzleien.